Mein Leben lang habe ich mir vorgestellt, wie es wäre mit einem Rennrad zu fahren. Ich dachte, dass es damit möglich sein müsste noch viel schneller unterwegs zu sein als mit den gewöhnlichen Stadträdern. Das war aber auch schon alles. Ich hatte noch nie vom Radsport gehört oder irgendwelche Radrennen gesehen. Ich hatte keine Ahnung von Rennrädern, ihrer Technik, Herstellern, Materialien oder war überhaupt schon jemals einem echten Rennrad begegnet. Ein Fahrrad war für mich ein Fortbewegungsmittel und ich hatte nur diese Idee, dass man mit einem Rennrad sicher unheimlich schnell unterwegs wäre.

Viele Jahre blieb das nur ein Hirngespinst, ein heimlicher Wunsch, eine Vermutung, die ich vielleicht irgendwann würde überprüfen können. Bis zu dem Tag im Juni 2016, der alles veränderte. Ich haderte seit einiger Zeit mit meinem zwar wunderhübschen, aber sehr schweren Hollandrad und auch wenn ich nicht aktiv nach einem neuen Rad suchte, nervte mich das Gewicht besonders bei Gegenwind gewaltig. Jon hatte mir mehrmals angeboten, uns nach einem leichteren Gefährten umzuschauen und war sogar bereit mir den Traum von einem Rennrad zu erfüllen, aber noch sträubte ich mich vor so einer, für unsere studentischen Verhältnisse großen Anschaffung. In der Nähe unserer Wohnung gab es einen kleinen Laden mit gebrauchten Rädern, an dem ich ab und zu vorbeikam und in dessen Schaufenster mir vor ein paar Wochen ein altes Damenrennrad aufgefallen war. Kein Sportrad, sondern ein altes Modell von Peugeot, klein, leicht und dazu noch weinrot. Dieses Rad könnte vielleicht ein Kompromiss sein, überlegte ich mir, nicht zu teuer und trotzdem die gewünschte Verschnellerung! Ab und zu sprachen wir über das Rad, aber jedes Angebot, im Laden danach zu fragen und Probe zu fahren schlug ich aus. Darf man sich ein anderes Fahrrad kaufen, wenn das eigene eigentlich noch fährt?

An dem Tag waren wir gerade auf dem Rückweg von einem anderen Fahrradladen, in dem wir uns mal wieder umgeguckt hatten und Jons Geduld war am Ende – entweder wir fragen nach dem alten Damenrennrad, oder das Thema Fahrradkauf hätte sich für ihn erledigt. Ich hörte an seiner Stimme, dass er es ernst meinte. Wollte ich ein schnelleres Rad haben, würde ich heute zuschlagen müssen.

Zusammen machten wir uns auf den Weg zum Laden. Auf meine direkte Frage, ob das weinrote Rennrad aus dem Schaufenster noch zu kaufen wäre, bekam ich die Antwort, dass es ausgerechnet gestern verkauft worden wäre. Ich drehte mich um und entdeckte das bunte Schildchen, das am Lenker hing. Was wir denn suchen würden, wurde ich gefragt und so stammelte ich langsam meinen Wunsch, dass ich auf der Suche nach einem leichteren Rad, am liebsten sogar Rennrad wäre. Der Mann, der uns beriet drehte sich zu einem Mitarbeiter um und fragte diesen, wo denn das kleine, rote Carbonrad wäre. Jons Reaktion werde ich für immer in den Ohren haben. Er stand hinter mir und ich hörte nur, wie er die Luft zwischen den Zähnen zischend einatmete und ich wusste, wieso, denn ich hatte zumindest schon gelesen, dass ein Rad aus Carbon die teuerste Variante war, mit der man bei Rennrädern einsteigen kann.

Es kam, wie es kommen musste. Im nächsten Moment schob der Mitarbeiter ein Rad zu uns rüber, wie man es sich schöner nicht vorstellen könnte. Rot und schwarz, super sportlich, klein, ein gerader Lenker, keine unnötigen Kunststoffverkleidungen, Schutzbleche oder Kettenkasten, die nackte Schaltung mit unzähligen Gängen direkt vor unserer Nase. Der Rahmen passte zentimetergenau zu meiner Größe und beim Zeus, war. das. leicht! Ich versuchte keine Miene zu verziehen, aber eigentlich war es da schon um mich geschehen. Ich sollte draußen Probe fahren und konnte es nicht fassen, aber ich stieg auf und wusste im nächsten Augenblick, das ist es. Es war genauso, wie ich es mir mein Leben lang erträumt hatte. Ich trat in die Pedale und war am Ende der Straße angelangt. Meine Muskelkraft unmittelbar in Bewegung umgesetzt, es war unbeschreiblich und ich wollte gar nicht mehr absteigen. Als ich umdrehte, grinsend auf Jon zuraste und sich unsere Blicke trafen, war ihm sofort klar, was Sache war. Ich konnte meine Begeisterung kaum zügeln und trotzdem mussten wir versuchen einen Moment lang vernünftig nachzudenken. Jon fragte mich, ob ich das Rad wohl in dem Maße nutzen würde, dass es den Preis rechtfertigen würde. Ich bejahte und hatte diese besondere Art von Gewissheit, dass das stimmte, auch wenn ich das natürlich nicht direkt beweisen konnte.

Was folgte war die beste Verhandlung, die ich in meinem ganzen Leben erlebt hatte. Sie war deswegen so besonders, weil Jon und ich eigentlich keine großen Redner sind und kaum unsere Münder aufbekommen und uns soziale Interaktion mit fremden Menschen schwerfällt. Außerdem hatten wir vorher noch nie so eine Anschaffung getätigt oder jemals etwas gekauft, über das man mit einem Händler verhandeln könnte. Doch für die folgende Viertelstunde wurde Jon zum Superhelden und handelte uns in den Kaufpreis noch einiges an Zubehör mit ein, sodass wir am Ende zwar mit einigem Geld weniger auf dem Konto nach Hause gingen, dafür aber ein Schloss, eine stylische Rennradklingel (, die immer noch dran ist, obwohl ich mittlerweile weiß, dass coole Rennradfahrer keine Klingel brauchen), Lampen, mobile Schutzbleche (, die ich bis heute nicht einmal angebaut habe, weil die ziemlich doof aussehen und stattdessen bei Regen irrationaler Weise lieber einen nassen Hintern in Kauf nehme), eine neue Steckachse (, im Austausch für den Schnellspanner, weil ich damals dachte, dass ich mit dem Rad auch alltägliche Fahrten in die Stadt machen würde und Angst um mein Vorderrad hatte) und das schönste Rennrad, dass ich mir je hätte erträumen können. Danke Jon!